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Tukums Smukums

Sagen über die Werwölfe in Tukums

Über den Rauda-Wald werden mystische Geschichten und Legenden erzählt – ein echter Geisterwald! Manche meinen, dass dieser hinsichtlich der energetischen Kraft im nichts dem legendären Pokaiņi-Wald nachsteht. Der Rauda-Wald ist insofern besonders, als hier – wie nirgendwo sonst in der Natur in Lettland – ein starker Kontrast der Energien zu beobachten sei. Hier treffen positive und negative Energien Auge aufs Auge. Die Mystik dieses Waldes wurde im Buch „Kurzemes vilkaču nostāsti“ [dt.: Sagen über kurländische Werwölfe] vom Theologen Ralfs Kokins beschrieben.

Dieses Buch erschien 2007 im Verlag „Zvaigzne“, und wir haben daraus vier Sagen ausgewählt.

Dreckeiche

Dies ist eine der seltsamsten Geschichten, die ich je gehört habe. Diese erzählt nicht nur von einer Begegnung mit einem Werwolf, sondern auch von einem unerwarteten und für uns schwierig nachvollziehbaren Gespräch mit ihm und öffnet uns so umso tiefere Geheimnisse des Daseins.

In mehreren Volksmärchen und Sagen verwandeln sich Menschen unter besonderen Umständen und durch magische Handlungen begleitet in Wölfe und Werwölfe. In kurländischen Geschichten über Werwölfe begegnen wir sehr eigentümlichen Wesen, die man sich vermutlich schon immer folgend vorgestellt hat: riesige, uralte, grauenhafte Figuren, Gespenster, schattenhafte Gestalten, die sich eher den keltischen „großen, starken Schatten“, auf Lateinisch fortibus umbris genannt, ähneln.

In der Gegend von Tukums steht in der Nähe der Engure-Landstraße, in den schönen, hügeligen Rauda-Wäldern, inmitten eines seltsamen Moors ein Hügel. Darauf erstreckt sich eine bereits tote, Jahrhunderte alte, sehr dicke Eiche mit einem dunklen Hohlraum etwa drei Meter über dem Boden; diese erhebt ihre riesigen, zerbrochenen, mit Moos und Flechte bedeckten Äste wie sehnige Arme gen Himmel.

Von der Dreckeiche [Draņķozols] und dessen geheimnisvoll schönen Umgebung werden mindestens fünf Geschichten über Werwölfe und etwa dreimal mehr Geistergeschichten erzählt. Am meisten kommt darin ein gewisser „irreführender Geist“ vor: unzählige Pilze- und Beerensammlerinnen und -sammler und Touristinnen und Touristen irrten sich seinetwegen bis zur Ermattung umher und kehrten auf eine unerklärliche Art und Weise immer wieder zu dieser Eiche zurück, um dann der Angst und Verzweiflung zu verfallen.

Die Dreckeiche ist mindestens sechshundert Jahre alt und wurde bereits in den Chroniken des 15./16. Jahrhunderts des Fleckens Tuckum und der umliegenden Kirchen als eine sehr große Eiche erwähnt, an der Hexen und Teufelsknechte erhängt und verbrannt wurden.

In den Zeiten der Leibeigenschaft erhängten sich in der Eiche verzweifelte Erbbauer aus der Umgebung. Auch in jüngster Zeit gab es hier mehrere geheimnisvolle Selbstmorde und verschollene Menschen. Die Gegend um die Eiche ist ein äußerst ungewöhnlicher, urtümlich schöner Ort mit einer sehr eigenartigen Aura.

Das ganze weite Waldmassiv zwischen Schwarzsee [Melnezers], Cērkste, Riesenberg [Milzkalne], Rauda, Ziegenbockbergen und Engure-Landstraße gehört vermutlich zu den vielfältigsten Wäldern in Lettland. Dort findet man alle Waldarten, überraschend hohe und steile Hügel, Waldseen, Moore und Bäche vor.

Südlich von der Dreckeiche, in der Nähe des fast unnatürlich steilen Maiglöckchenhügels [Maijpuķīškalns], ganz oben auf den mit alten Fichten bewachsenen Hügeln, strömt seltenes natürliches Gewässer hervor: das sind die sogenannten Blasenquellen, die aus den Tiefen der Erde sehr kaltes, kristallklares Wasser mit großer Kraft herausfließen lassen. An Stellen, an denen das Wasser aus dem Boden ausgespien wird, bildet sich unter den Wurzeln großer Bäume ein paar Meter breites, rundes, sich bewegendes „Auge“ im Sand. Selbst mit Hilfe eines langen Holzstabs ist es nicht möglich, den Boden zu erreichen. Wenn ein längeres Objekt in das runde Auge eingeschoben wird, scheint die Quelle, wütend zu werden, quellt über allen Maßen auf und schießt das fremde Objekt mit großer Kraft hinaus. Aus diesen Quellen entsteht ein ganzes Bachsystem, dessen einzelnen Bäche als dünne, flinke Adern den Berg hinunter zum Schwarzsee führen. Die Einwohner aus den nahegelegenen Ortschaften schätzen die heilenden Eigenschaften dieser Quellen.

Geht man von der Eiche Richtung Pferdesee [Zirgezers], findet man gleich hinter den großen Wassergruben den Baumstumpf einer riesigen, alten, wer weiß wann abgebrochenen Fichte mit einer leeren Mitte. Das Beste daran ist, dass das Loch im Baumstumpf mindestens so tief wie ein ordentlicher Brunnen ist! Von dort erklingen spukhafte, geheimnisvolle Echos. In der Nähe des Baumstumpfs wachsen sehr viele Pilze und Beeren, da die Menschen diesen meiden. Und normalerweise lassen sich die Letten doch von nichts abhalten, wenn sie sich auf Pilze- und Beerenjagd begeben. Leute reden, dass dies der Ausgang aus der unterirdischen Welt der Zwerge oder sogar Trollen sei. Manch einer behauptet: Dies sei ein Teil einer sehr großen Anlage alter keltischen Heiligtümer, was aber eher unwahrscheinlich ist.

In jenen Wäldern wurden sogar Tiere wie der Luchs oder Wolf gesichtet, vor allem Richtung Meer von der Dreckeiche und der Ziegenbockberge aus gesehen.

In der Nähe von Dreckeiche wird man ohne den geringsten Grund von einer plötzlichen, animalischen Angst heimgesucht. Es ist, als ob einen jemand Gruseliges von einem unbestimmten Ort aus beobachten würde. Selbst beim windigen Wetter herrscht dort völlige Ruhe, oft versinkt der Ort in einem düsteren Nebel.

Ein kurviger Pfad führt von der Eiche hinunter in eine Schlucht und endet nach ein paar Dutzend Metern am Rand eines kleinen, mit schwarzen Wassergruben durchsetzten Moors. Der Pfad ist ziemlich breit und wächst nie zu, als ob jemand regelmäßig darauf laufen würde, obwohl er ja eigentlich nirgendwo hinführt. Seltsam ist auch der Pfad, der von der Eiche berghoch führt, dann entlang dem Lerchensumpf [Cīruļpurviņš] und dem Haselbaumberg [Lazdu kalns] verläuft und schließlich zum mehrere Kilometer weiter gelegenen Landhaus „Ozoliņi“ oder zur Engure-Landstraße hinausläuft. Beim Aufstieg wird man nicht nur von einer ungewöhnlichen Müdigkeit, sondern auch von schweren, düsteren Gedanken befallen. Wenn man alleine unterwegs ist und sich von der Eiche entfernt, kriegt man eine unüberwindliche Angst davor zurückzuschauen.

In der Nähe der Dreckeiche wachsen viele seltene Arten von Pflanzen und Blumen, die Bäume sind dort stark, alt, groß, mit vielen Zweigen. An einer Stelle sind sogar drei alte Riesen – eine Fichte, eine Kiefer und eine Birke – zusammengewachsen. Im umliegenden Wald finden sich mehrere Überreste uralter „Teufelsboote“ sowie eigenartig geformte Steine mit altertümlichen Zeichen.

Das Moor, das ganz an der Dreckeiche liegt, ist am gruseligsten. In Worten lässt es sich gar nicht fassen. Selbst die spukhaft berühmten Bergtalmoore in Transsilvanien und Bayern bieten diesem Kurländer keine Konkurrenz.

Als wir mal in Herbstferien in der Nähe der Dreckeiche spielten, begegneten wir – wie so oft – dem hiesigen Förster. Er war sehr, sehr alt und trug einen ziemlich langen, grauen Bart. Er ähnelte einem Wilder und war in gewisser Hinsicht anders als normale Menschen. Er war wortkarg, aber wenn er redete, dann mit einer rauen, hohlen Stimme, und wenn er lachte, dann vom Herzen, sodass der ganze Wald dröhnte. Wir, Knaben, scherzten unter uns über das Erschießen von Monstern, der Förster sagte daraufhin aber ernst, dass wir dann wohl eine Patrone mit silberner Kugel bräuchten. Silberkugeln seien dafür da, um Hexen und Werwölfe zu erschießen. Der Mann meinte, dass er uns etwas erzählen könne, was er einmal selbst auf eigener Haut erlebt habe. Er hat etwas in der Tat Gruseliges und Erstaunliches erzählt.

Es geschah Anfang der sechziger Jahre. Der Förster hatte einen alten Karabiner, den er von den Vätern der Väter geerbt hatte. Es war Ende August, als er, um nach Hause zu gehen, die kleinen Waldpfade nahm, die an der Dreckeiche vorbeiführten. Es war schon spät, und der Wald lag in einer sanft rauchigen Abenddämmerung. Es gab Vollmond, und der Himmel war bewölkt. Als er an die Dreckeiche vorbeilief, überwältigten ihn plötzlich seltsame, bisher unbekannte Ängste. Es spürte sehr deutlich, dass ihn jemand von hinten genau ansah. Der Förster schaute zurück. Vom Anblick erschreckte er sich beinahe zu Tode. Hinter ihm, auf dem Pfad stand ein gruseliges, sehr dunkles Wesen. Dieses war mindestens drei oder vier Meter groß. Das Wesen war dem Menschen ähnlich, aber unten sehr breit und oben dünn. Einen Augenblick schien es, an einen verbrannten, verkohlten Menschen zu erinnern. Der Kopf war wie der eines Wolfs, nur ohne Ohren, mit sehr dunklen, tiefen Augen und unnatürlich langen, dünnen, krummen Zähnen. Sein ganzer Körper war mit schwarzen, wie es schien, zerzausten Haaren bedeckt.

Plötzlich wurde alles vom Leichengeruch überdeckt, und eine Grabenstille ist eingetreten. Selbst die Natur erstarrte – kein Blatt, kein Grashalm rührten sich. Zuerst schien es dem Förster, dass er einem bösen Alptraum verfallen ist, dass etwas mit seinem eigenen Kopf nicht stimmte. Der Förster fasste blitzschnell an seinen Schulterkarabiner, nahm die alte Patrone mit der Silberkugel aus der Tasche und setzte sie in den Lauf. Er wollte noch etwas fragen, aber seine Zunge war wie gelähmt und seine Kehle brachte beim besten Willen nicht das geringste Geräusch hervor. Als er den Finger bereits am Abzug hatte, redete das Wesen plötzlich los. Es gab gruselige Geräusche von sich.

Das Seltsamste daran war das, dass es dem Jäger sofort vorkam, als ob er vor seinen Geistesaugen einen Film, ein Bild sehen würde, wo er seine Waffe, ohne zu schießen, absenkt und sich mit dem gruseligen Wesen unterhält. Das begegnete Wesen sagte in einer Sprache der Urgestalten oder Träume, dass es weder gut noch böse sei – sondern ein Werwolf.

Als diese Gedanken oder Bilder verschwanden, beschloss der Förster, nach seinem Bauchgefühl zu handeln und legte die Waffe nieder. Dann passierte etwas Unerwartetes. Der Werwolf fing an, tiefe, seltsame Geräusche von sich zu geben, es war klar, dass er sprach. Es war etwas unbeschreiblich Gruseliges und Erstaunliches. Die Stimme klang wie ein Stöhnen aus dem Jenseits. Das war etwas völlig anderes als menschliches Reden. Der Werwolf sprach mit einer hohlen, ungewöhnlich tiefen Stimme – wie ein Schamane aus dem Norden, wie die alten Orakel. Der Förster verstand vom Gerede des Werwolfs schlicht gar nichts. Während dieser redete, sah der Förster aber unklar Szenen mit dem Werwolf und anderen Monstern aus Märchen, viele von den Monstern hatten Flügel.

Mit einer unvorstellbaren Überwindung versuchte der Förster, dem Werwolf im klaren Lettisch etwas zu sagen, als ob er sich für etwas rechtfertigen wollte. Anfangs gelang ihm nichts, da ihn wieder das animalische, lähmende Angstgefühl überwältigte. Er wollte sich irgendwie mit seinem Namen vorstellen, verstand dann aber, dass er seinen eigentlichen Namen gar nicht kennt, denn der im Ausweis eingetragene und in der Welt der Menschen genutzte schien ihm in dem Augenblick ein leeres, auch für ihn selbst nichts bedeutendes Geräusch. Aber dann kam die Erleuchtung, dass er in der Sprache der Bilder, Träume, Fantasie und Urgestalten sprechen musste. Das war sehr schwierig. Plötzlich erinnerte er sich an seinen eigentlichen Namen, dieser war überhaupt nicht seinem lettischen Namen ähnlich. Dann sprach der Werwolf wieder und zuckte mehrmals Richtung des Försters, als wollte er ihn verschlingen oder zumindest zu Tode erschrecken. Der Werwolf wurde sehr wütend und tobte schrecklich, und der Förster fühlte ein unüberwindliches Bedürfnis, sich zu retten, dieser Gefahr irgendwie zu entfliehen, weiter erinnert er sich an nichts – bis zu dem Moment, als er laufend fast am Rande des Ozoliņi-Walds ankam, nachts, im hellen Mondschein.

Das Merkwürdigste war, dass der Förster nach dieser gruseligen und ungewöhnlichen Begegnung über zwei Sachen Bescheid wusste. Erstens: Seine Gesundheit ist ernsthaft gefährdet. Es ging ihm schon monatelang schlecht, aber nach diesem Ereignis wurde ihm Krebs diagnostiziert. Die Erkrankung war noch in einem Stadium, wo operiert werden konnte. Die Operation verlief erfolgreich, und der Förster wurde wieder vollständig gesund. Zweitens: Werwolf spricht in einer universalen Sprache, die jeder verstehen kann – sowohl Menschen als auch Tiere, Reptilien oder Vögel. Der Werwolf spricht in einer tieferen Ursprache der Tiere, Drachen und anderer Wesen. Das ist die Sprache einer nicht zerlegbarer, weiten und vollständiger Realität, die vom Gott selbst an alles von ihm erschaffene Leben gegeben wurde.

Am wichtigsten sei aber die Erkenntnis gewesen, dass direkt neben uns unbekannte, unverständliche Wunder existieren und dass es möglich ist, unmittelbar, ohne Worte mit allem Lebenden, egal wie es sei, zu kommunizieren. Die Botschaft aller Lebewesen an uns ist voller Vertrauen und Güte. Sie nehmen hervorragend wahr, was wir denken und was wir ihnen sagen möchten. Sie leiden demütig und fühlen zusammen mit uns oder erfreuen sich, durch die größte Hoffnung ermuntert. Der Mensch wächst stets heran und entwickelt sich, und irgendwann wird er weder Max noch Moritz sein, die anfangs auch nichts sahen oder fühlten, sondern zerstörten nur.

***

Pferdesee

Im Rauda-Waldmassiv zwischen Lerchenmoor [Cīruļpurviņš], Ziegenbockbergen [Āža kalni] und Dreckeiche [Draņķozols], von steilen Hügeln und undurchschaubarem Dickicht umgeben, ruht der Pferdesee [Zirgezers]. Das ist ein kleiner, runder Waldsee mit ziemlich dunklem, rostfarbenem Wasser. Die Ufer des Sees sind mit alten Fichten dicht bewachsen, deren hängenden, flechtenbedeckten Zweige selbst beim Tageslicht dunkle Schatten über den ruhigen Wasserspiegel werfen. Gleich an den verhedderten Wurzeln der großen Fichten beginnt das Wasser, das sofort eine ordentliche Tiefe aufweist.

Stellt man sich an das Ufer des Sees, erdröhnt hohl der Boden, weil es unter den Wurzeln einen leeren Raum und auch Wasser gibt. Genauso wie am nahegelegenen Schwarzsee [Melnezers] findet man stellenweise auch hier, zwischen den Wurzeln am Ufer, mehrere Meter tiefe, mit Wasser gefüllte Hohlräume.

Der See erhielt seinen Namen von einem tragischen Ereignis, das um das Ende des 19. Jahrhunderts oder den Anfang des 20. Jahrhunderts datiert werden könnte. Es war einmal, dass ein Mann Brennholz nach Hause fuhr, das er an einem dafür ausgewiesenen Ort in den Tiefen des Waldes gefällt hatte. Da die Wege in dieser Umgebung sehr kurvig sind und stets steil berghoch und dann wieder -runterführen, entschied sich der Mann, seinen Weg ein wenig zu verkürzen, indem er den zugefrorenen See mit seiner Brennholzfuhre überquerte. In der Mitte des Sees brach das Eis ein. Trotz der großen Mühe verlor das verfrorene Pferd alle seine Kräfte im kalten Wasser und ertrank schließlich. Seitdem haben der eine und der andere Angler Nebelschwaden in Form eines spukhaften Pferdekopfes gesehen.

Es gab noch weitere tragische Ereignisse oder sogar Gräueltaten im See und seiner Umgebung, so dass die Menge an Geistergeschichten dieses Ortes vielfältig und beeindruckend ist. Pilze- und Beerensammlerinnen und -sammler haben den Geist eines jungen, sehr blassen Mädchens mit spukhaft leeren Augen und einem zugebundenen oder zugenähten Mund sowie das Waschen von Werwölfen im See an nebligen Herbstabenden gesehen. Aus dem Wasser ragten die Schulter und der Kopf des Werwolfes, überall erhob sich der Dampf wie aus einem heißen Bad. Die Skeptiker sagen dazu: Vermutlich sind es Elche, die dort ins Wasser gehen.

Ein Mann erzählte einmal: An einem ruhigen, regnerischen Tag im August saß er am See und angelte. Er war an diesem Tag allein am See und genoss in vollen Zügen seine Einsamkeit. Er saß dort in einem Allwettermantel mit großer Kapuze gemütlich eingewickelt, rauchte zufrieden und dachte über das Leben nach. Plötzlich hörte er hinter ihm Schritte, die sich ihm von einem Berghang im Wald näherten. Diese kamen langsam und sicher an ihn heran und blieben hinter ihm stehen. Zuerst schien es, dass ein anderer Angler von hinten dazugekommen ist. Manchmal machen es die Männer so – sie kommen leise heran, beobachten schweigend, wie es dem anderen geht, dann begrüßen sie einen leise und fragen wortkarg, ob man denn heute auch was fangen kann. Als das Schweigen bereits ungewöhnlich lange andauerte, beschloss der alte Mann, einen Blick nach hinten zu werfen, um zu schauen, wer da gekommen war. Als er dann nach hinten schaute, fiel er vor dem Erschrecken beinahe um: Es stand da ein Skelett eines jungen, blassen Mädchens mit langem, zotteligem, flachsfarbenem Haar, leeren Augenhöhlen und mit groben Fäden zugenähtem Mund. Er zuckte und verdrehte vor Unglauben die Augen, aber das Skelett stand trotzdem noch da. Da er glaubte, seinen eigenen Augen nicht mehr trauen zu können, lehnte er sich nach vorne und sprang in einem Atemzug auf die Beine. Er drehte sich schnell wieder um und schaute verängstigt – aber da war nichts mehr. Ihn überfiel ein derart unbehagliches Gefühl, dass der Mann schnell nach Hause eilte. Bis heute kann er nicht verstehen, was damals wirklich passiert ist.

Ein anderer Angler beobachtete einmal an einem regnerischen Tag, dass etwas Langgestrecktes, einem schmutzigen Lumpenhaufen Ähnliches, bergab in Richtung See rutschte. Da er nicht verstehen konnte, was das wirklich war, richtete er sich auf, ging in die Richtung des Hügels, um einen genaueren Blick darauf zu werfen. Der Lumpenhaufen gab seltsame Geräusche von sich, als ob jemand röcheln oder lange rülpsen würde. Der Angler dachte, dass sich wahrscheinlich ein Tier darunter verfangen hatte, also nahm er einen Stock zu Hilfe. Damit wollte er den Lumpenhaufen etwas abtasten und ein wenig anheben, um zu sehen, was darunter war. Da sprang er sofort entsetzt zurück und fiel rückwärts auf den Boden. Das war kein Lumpenhaufen, sondern ein verwesendes Skelett eines jungen Mädchens – haarig, sehnig, völlig zerfetzt. Die Augen des Skeletts waren mit einem schmutzigen Lumpen zugebunden, und es fehlte der Unterkiefer. Es röchelte wie beim Erwürgen und setzte liegend seinen Weg fort. Ohne zu halten, verschwand es mit Kopf zuerst in eine Wassergrube wenige Meter vom Seeufer entfernt. Es war ein „greifbares“ Phänomen, kein Schein oder unklare Vision. Danach sah er diesen Geist noch mehrmals nachts. Er erwachte von den bereits gehörten röchelnden Geräuschen. Normalerweise rutschte der Geist die Treppe vom Dachboden hinunter. Als das Licht eingeschaltet wurde, war nichts mehr sichtbar, man konnte nur noch einen üblen Geruch riechen und Türen, die vorher geschlossen waren, waren dann offen, oder das Mondlicht fiel auf die Treppe. Ihm wurde geraten, für sich und andere zu beten, aber er tat es nicht. Da der Geist den Mann weiterhin quälte, entschied sich dieser, magische Mittel einzusetzen, die ihm von jemandem empfohlen wurden. Bald verlor er den Verstand und beging eines Nachts Selbstmord.

Am meisten hat mich ein Ereignis aus meiner Kindheit beeindruckt, als wir mit unbeschwerter Freude in der Umgebung von Rauda unsere Schulferien verbrachten. Das Wasser am Boden des Pferdesees ist von unterirdischen Quellen durchströmt, deswegen ist das Wasser dort fast immer eiskalt Dennoch badeten wir eines Sommers dort öfter, obwohl es uns strikt verboten war, dies zu tun. An den tiefsten Stellen könnte die Entfernung bis zum Schlammansatz maximal drei oder vier Meter betragen.

Wir hatten gehört, dass hier während des Krieges deutsche Waffen und vielleicht sogar Panzer versenkt wurden, damit die russischen Truppen sie nicht bekamen. Wir nahmen selbstgemachte Unterwasserleuchten, Schwimmbrillen und von Krankenhausutensilien selbstgemachte Atemschläuche mit. Es war ein fast unerträglich heißer Sommertag, und das sonst sehr kalte Wasser war in manchen Bereichen sogar warm. Wir waren zu fünft oder sechs und tauchten in Teams, weil wir nicht genug Ausrüstung hatten, um alle zusammen zu tauchen. Wir begannen, den Grund des Sees von einem Ende zum anderen systematisch durchzusuchen. Als wir bereits müde waren und der größte Teil des Sees ergebnislos abgesucht war, tauchte noch einmal das zweite Team der größten Jungs, bevor wir nach Hause aufbrachen. Bald tauchten zwei von ihnen auf und schrien begeistert, dass sie unten etwas Großes und Mächtiges gefunden hatten. Man brauche noch ein paar Lichter und einen weiteren Helfer. Dann tauchten die beiden wieder. Ihnen folgte ein weiterer Junge, um das Licht zu zeigen.

Ich werde es mein Leben lang nicht vergessen, was als nächstes passiert ist. Alle drei schossen plötzlich wie Korkschwimmer an die Oberfläche und schwammen verzweifelt ans Ufer, fast alle Lichter hatten sie am Grund des Sees gelassen. Die Angst hatte die Gesichter der Jungen bis zur Unkenntlichkeit verwandelt, selbst als sie an dem sonnenerhitzten Ufer saßen, zitterten sie und konnten nicht zusammenhängend erzählen, was dort unten geschehen war. Am Grund des Sees fanden sie ein fast weißes, massives Objekt. Zuerst dachten sie, es wäre ein Panzer oder ein Panzerwagen, aber danach, dass vermutlich doch eine Kanone. Schließlich stellte sich heraus, dass das große Objekt gekrümmt, relativ leicht und ziemlich glatt war. Als sie es ein zweites Mal vom Grund hoben und versuchten, den Schmutz mit den Händen zu reinigen, stellte sich heraus, dass das massive Objekt einen echten Kopf hatte, ähnlich dem Kopf eines Pferdes. Es war ein Kopf mit einem seltsam verdrehten Maul, flachen, gelben Zähnen und großen, stumpfen, tassenartigen, porzellanähnlichen Augen. Diese Jungs sagten: Das war das Schrecklichste, was sie je gesehen hatten und was man sich nicht mal in den schrecklichsten Alpträumen ausmalen könnte. Es war ein Bild, das man lieber nicht mehr aus den Tiefen der Erinnerungen aufrufen sollte.

Warum ist es so traumatisch, etwas Hässliches aus den Tiefen des Wassers zu heben? Ist das nicht ein Beweis dafür, was wir in den dunklen Tiefen unseres Unterbewusstseins finden könnten? Etwas wirklich Schreckliches dort erblicken könnten? Wenn in uns nichts Derartiges schlummern würde, hätten wir denn überhaupt Angst vor dem Kopf eines ertrunkenen Pferdes? Es gibt immer dieses Risiko – sind wir bereit uns das anzuschauen, was wir aufgehoben haben? Was machen wir, wie leben wir damit weiter? Damals entschieden wir, dass es entweder das in der Sage erwähnte ertrunkene Pferd, das sich über die vielen Jahre mumifiziert hatte, oder ein ertrunkener und toter Werwolf hätte sein können. Seit dem Vorfall, seitdem die Jungs uns deren Erlebtes erzählt hatten, ging keiner von uns jemals wieder in diesen See, selbst nicht, um vor Mädchen anzugeben.

***

Ziegenbockberg

Inmitten der hügeligen und kurvenreichen Landstraße von Engure und der Rauda-Waldstraße, ganz oben auf einem Hügel befindet sich der Friedhof von Rauda. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite liegt im Tal ein schönes Moor mit einem kleinen See in der Mitte. Am unteren Ende des Moors führt ein kleiner Weg in die tiefen Wälder hinein. Nach etwa einem Kilometer verzweigt er sich: die kleinere Abzweigung verläuft links, entlang eines großen Moors, und führt zu Ziegenbockbergen [Āža kalni] und weiter durch einen dicht bewachsenen jungen Fichtenwald sowie zum Pferdesee und zur Dreckeiche. Direkt neben der Abzweigung, die nach „Ozoliņi“ führt, befindet sich auf der rechten Seite ein sehr tiefer Krater, der vor unbekannter Zeit durch einen Meteoriten gebildet wurde und ca. 50 Meter im Durchmesser umfasst. Darin ist ein kleiner See entstanden.

An jenem Tag ging ich von der „Ozoliņi“-Seite den Hügel hoch und stieg dann in den steilen und tiefen Meteoritenkrater hinunter: dieser Weg war immer aufregend, manchmal gelang es mir so, einige im Sumpf schlafende Wildschweine zu erschrecken. An dem Tag sah ich dort keine, aber hörte irgendwo außerhalb des Kraters, tief im Wald, ein Heulen. Aufgrund der großen Entfernung konnte ich nicht eindeutig erkennen, was für ein Tier dort heulte. Ich wollte glauben, dass es ein Wolf war – einen echten, lebenden Wolf zu sehen, war schon lange mein Traum. Die Einheimischen sagten auch, dass sie einen großen, etwas hinkenden, einsam herumstreifenden Wolf gesehen hätten, der anscheinend zu keinem Rudel gehörte.

Die Reaktion meines Hundes sorgte für eine geheimnisvolle Anspannung – als er das entfernte Heulen hörte, rannte er sofort zu mir und, rastlos winselnd, drückte sich an meine Beine. Rasch kletterte ich aus dem Meteoritenkrater heraus und schob noch ein Stückchen mein Fahrrad an der Hand, denn zuerst musste ich den steilen Hügel hochsteigen. Als ich auf dem Gipfel des Berges angekommen war, konnte ich mich nicht entscheiden, in welche Richtung ich jetzt gehen sollte: die besagte Abzweigung bergrunter Richtung Ziegenbockberge oder nach rechts Richtung Lerchenmoor. Dann beschloss ich, dass es interessanter wäre, bergrunter Richtung Ziegenbockberge zu laufen. Mein Hund war dagegen von dieser Idee nicht so begeistert. Ganz ängstlich, den Schwanz eng am Körper angezogen, drückte sich mein Hund an meine Beine, obwohl er ja eigentlich ein sehr großer und starker Hund war und auch böse wirken konnte. In diesem Moment fühlte ich weder Angst noch irgendeine Unsicherheit. Ich beschloss, dem Hund eine Mutstunde zu geben.

Doch dann überfiel auch mich plötzlich Angst, sogar ein seltsames, einsames und gruseliges Gefühl der Traurigkeit. Als der Weg durch das Dickicht der Fichten auf dem steilen Rücken des Ziegenbockbergs etwas schräg nach oben führte, ertönte irgendwo in der Nähe wieder dasselbe Heulen. Dann bekam ich so richtig, richtig Angst. In dem Augenblick verließ mich mein Hund, der mich nicht davon überzeugen konnte, nach Hause zu gehen, lief davon und ließ mich allein im Wald. Ich beschloss, mein Fahrrad in die steile Hügelkette der Ziegenbockberge hochzuschieben. Von da führt auf der Rückseite des Hügels ein Pfad bergab und endet auf der Rauda-Straße, direkt dort, wo der Friedhof steht. Zumindest wirst du dort schnell fahren können und aus diesem fürchterlichen Ort rasch wegkommen, sagte ich zu mir. Als ich das Rad den Hügel hochschieb, verfiel ich in eine unbeschreibliche, panische Angst. Ich konnte ganz klar spüren, dass etwas Gruseliges mich von irgendwo her genau anschaut.

Ein derartiges Gefühl hatte ich bisher ein paar Mal nur in der Nähe von der Dreckeiche erlebt. Auf der rechten Seite des Pfads erhob sich der steile, mit Birken, Espen und kleinen Fichten bewachsene Hang des Ziegenbockbergs wie eine Mauer, und auf der linken Seite standen ein paar große, alte Waldeichen. Dahinter gab es ein weiteres Moor und ein dunkler, dichter Fichtenwald. Ich spürte, dass genau von dort etwas Gruseliges direkt auf mich schaute. Davon lief es mir kalt den Rücken hinunter. Das war eine völlig grundlose, animalische, lähmende Angst, die mich fast zum Schreien zwang. Ich musste mich mit der ganzen Kraft zusammenraffen, um meinen Weg fortzusetzen und nicht zu erstarren. Egal, was ich mir selbst einzureden versuchte, fasste ich nicht den Mut, um zurückzuschauen, weil ich intuitiv Angst hatte, etwas Schreckliches zu sehen. Irgendwie schaffte ich es, etwas schneller zu werden und dann doch rasch oben auf den Hügel zu gelangen. Die Spitze des langgezogenen Hügels, der an den Rücken eines Ziegenbocks erinnerte, war von lichten Laubbäumen bewachsen, alle dunklen Dickichte waren irgendwo weit unten geblieben. Oben war es viel heller, und die Angst löste sich von selbst auf.

Als ich zu Hause ankam, stand der Hund, fest an die Haustür gedrückt. Er sah immer noch wirklich verängstigt aus, und sein Blick war knochenweiß.

Nachts sah ich einen merkwürdigen Traum. Ich war mit meinem Hund unterwegs, genau wie am Vortag. Ich sah alles wie im Film – wie ich in den Meteoritenkrater herunterstieg, wie ich das Heulen hörte, wie ich dann in die Ziegenbockberge fuhr, wie mein Hund in Fahrradspeichel verhedderte und später davonlief. Ich bekam Angst – genau wie bei meinem Abenteuer tagsüber. Als ich neben den alten Eichen stand, erklärte mir eine von ihnen mit einem seltsamen, aber sehr gütigem Gesicht, dass sie schon viele Passanten auf deren letzten Weg begleitet hatte und diesen Weg vor denjenigen schützte, die sich über die Zeit des Wegs lustig machten und diese manchmal sogar verschluckten.

Die Bäume sind ja äußerst spannend. Bereits seit meiner Kindheit wusste ich, dass Bäume nicht nur Bäume sind, wie es uns vorkommen könnte. Bäume verfügen über ihre eigene Kompatibilität oder Inkompatibilität mit Menschen – und das bezieht sich nicht nur auf bestimmte Arten. Bäume sollen über etwa drei Seelen verfügen. Allerdings wird dieses in der Regel nur von Eichen behauptet: diese wachsen dreihundert Jahre lang, leben dreihundert Jahre lang und genauso lange sterben sie. Unter Kurländerinnen und Kurländern gelten diese drei Perioden für alle Bäume und bis zu einem gewissen Grad vielleicht sogar für alle Menschen. Wenn ein Baum fast schon ausgetrocknet ist, trennt sich dieser von zwei seiner Seelen, die dann bis zum letzten Tag irgendwo in der Nähe bleiben.

Ebenso erzählt man, dass auch der Mensch in sich etwas Immaterielles, quasi Unsterbliches trage, was nach dem Tod noch lange um den Ort des Todes herumwandere. So werden verschiedene Phänomene an Orten, wo sich Unfälle oder Katastrophen ereignet haben, oder sogar in Häusern, in denen ein verstorbener Mensch einmal gelebt hat, erklärt. Die ganze Welt, jeder Ort werde jedes Jahr voller, weil jedes Jahr das, was mal war, lebte oder geschah, dazukomme. Vielleicht seien es gewisse Informationen, die von all dem übrig bleiben. So entstehen helle und positive oder gruselige und dunkle, düstere Orte.

Mit jedem Jahr werde das Leben angesichts des geschichtlichen Verlaufs der Welt zugleich einfacher und schwieriger. Aber das, was Bäume reden, sei stets die reinste, ehrlichste Wahrheit und Weisheit. Etwa, dass das Leben schön ist – unabhängig vom Ort oder von Art, Bewegungsmöglichkeiten und sogar Leiden. Dass das Leben existiert und geschieht, trotz allem. Und dass das Gleichgewicht in allem so zerbrechlich ist.

Im Leben soll alles viel einfacher, aufrichtiger und liebevoller ablaufen, als wir es uns vorstellen. Obwohl Bäume sehr mächtig seien und deren Seelen jeden einzelnen Menschen wie einen winzigen Sauerampfer niederschmettern könnten, seien sie eigentlich unvorstellbar gutmütig. Wenn Bäume verletzt werden, weinen sie leise, obwohl sie eigentlich in der Lage seien, ihren Übeltäter ewig durch den Wald irren und ihn vor Müdigkeit fast tot umfallen lassen. Das machen sie aber nicht, und Gott sehe das. Einer richtigen Kurländerin oder Kurländer werden aber gewiss ein paar Fälle in den Sinn kommen, in denen die Seele des gefällten Baumes dessen Fäller verfolgte, irreführte und bis zum Tode ermattete. Wenn der Baum erfriert, bleibe ihm nur noch eine seiner Seelen übrig. Deshalb ist auch ein toter Baum immer noch ein Lebewesen. Diese Seele hat ein runzliges, langes und verzogenes Gesicht, das sich einer Märchenfigur ähnelt. Deshalb sehen die ausgetrockneten Bäume auch ein wenig beängstigend aus. Aber böse ist auch diese Seele nicht.

Wenn Bäume nicht bloß des primitiven, unverantwortlichen Überlebenswillens wegen, sondern zur richtigen Zeit gefällt werden, bleibt diese letzte Seele im Baum erhalten, selbst wenn er in einen Balken oder in ein anderes Baumaterial verarbeitet worden ist. Daher atmen, bewegen sich und leben auch die alten Holzhäuser mit ihren eigenen Gesichtern und Seelen, genauso wie die alten Holzsegelschiffe. Wenn aber der Baum zur falschen Zeit – während er Knospen bildet, blüht oder grünt – gefällt wird, dann finden seine Seelen keine Ruhe und sorgen dafür, dass der Gegenstand, der aus dem gefällten Baum gemacht wurde, seine Funktionen nicht erfüllt und dem Menschen sogar schadet.

Das Verhältnis zwischen Bäumen und Zeit ist völlig unklar. In Kurland wird behauptet, dass die am Straßenrand wachsenden Bäume die Reisenden entweder vor falschem Zeitablauf schützen oder ihre Zeit zählen. Noch hört man hier, dass die am Straßenrand wachsenden Bäume die Zeit quasi auffressen, sodass nichts davon übrig bleibe und von verschiedenen bösen Kräften nicht genutzt werden könnte.

Der Weg ist es, der den Menschen verwandelt. Und der Zeitablauf, wie man ihn auf dem Weg erlebt, könnte in den Händen von Bäumen liegen. So stehen sie an den Straßenrändern, vor den Häusern, im Wald – für uns so unverständlich und geheimnisvoll. Bäume dienen in der Regel selbstlos und zuverlässig.

Von dieser Stelle an weichte der Traum von den am Tag durchgemachten Erlebnissen ab. Ich stieg nicht mehr auf den hohen Berg, sondern blieb stehen, drehte mich um und schaute in das dunkle Dickicht, wo etwas Gruseliges zu spüren war. Zuerst konnte ich dort nichts erkennen, aber als ich genauer hinschaute, bemerkte ich schließlich etwas viel Größeres und Schrecklicheres, als ich mir vorstellen konnte. Ich wachte im letzten Augenblick auf und kann mich deswegen nicht erinnern, was wirklich da war und wie es aussah.

Als ich aufwachte, raste mein Herz wie verrückt. Zuerst konnte ich nicht sagen, ob ich tatsächlich wach war oder nicht, denn von irgendwo sehr nah hörte ich jemanden jaulen. Ich hörte zu und erkannte, dass die Geräusche aus dem Hof kamen. Das war mein Hund, der mit voller Brust im hellen Mondlicht jaulte. Ich warf etwas aus dem Fenster auf ihn, er schwieg eine Weile, aber dann begann wieder mit einer neuen Kraft alles von vorne. Ich war genervt und beschloss, nach draußen zu gehen und ihn um meiner Ruhe willen im Stall einzusperren. Nachdem ich es getan hatte, überkam mich mitten im Hof schon wieder diese seltsame Angst. Zuerst schien es, als würde jemand mich aus dem alten Apfelgarten hinter dem Brunnen anschauen. Dann kam es mir vor, als ob etwas zwischen mir und der Freitreppe meines Hauses stehen würde, obwohl der Mond hell schien und nichts zu sehen war. Aber die Vorahnungen ließen mich erschaudern.

Dann passierte etwas Unerklärliches – ich spürte deutlich, dass etwas Großes, Dunkles und Schreckliches sich schnell näherte und als ob auf mich zu rannte. Es lief durch mich hindurch oder sehr eng an mich vorbei und kratzte bis zu physischem Schmerz an meiner Existenz, berührte unbehaglich meine Seele. Mir war es, als ob ich schwer verletzt wäre, mir etwas Wichtiges gestohlen wurde oder zumindest ich etwas aus meinem Gedächtnis verloren hätte. Meine Seele fühlte sich wie geschürft an!

Obwohl ich mich so seltsam unwohl fühlte, ging es mir körperlich gut. Ich erinnere mich, dass ich in dieser Nacht vielleicht das erste oder eines der ersten Male in meinem Leben äußerst ernsthaft und aufrichtig zu Gott betete, weil ich nichts mehr verstand.

Ein paar Wochen später entschied ich mich, zu Ziegenbockbergen zu fahren, um mir den Ort genau anzuschauen, an dem ich ohne einzigen rationalen Grund so sehr verängstigt wurde. Damit der Hund nicht davonläuft und mich nicht alleine lässt, nahm ich ihn diesmal an der Leine. Aber er hatte überhaupt nicht vor wegzulaufen, und ich hatte auch keine Angst. Das Dickicht war dort so wie auch überall anderswo – da gab es nichts Besonderes oder Verdächtiges. Erstaunt wurde ich von einer anderen bemerkenswerten Sache: die Eiche, die im Traum mit mir gesprochen hatte, war vom Wind umgestürzt worden.

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Lerchenmoor

Nicht mal einen halben Kilometer südwestlich von der Dreckeiche [Draņķozols] entfernt, inmitten vieler kleiner, fast unnatürlich steiler Hügel, liegt das Lerchenmoor [Cīruļpurviņš]. Es ist ziemlich groß, gefährlich und auch gruselig.

Das Lerchenmoor ist ein Dickicht von Fichten und verschiedenen Laubbäumen, durch sein Gestrüpp kann man kaum laufen. In alle Richtungen führen durch das Moor schmale, von Tieren eingetretene Pfade – wie Tunnel oder Labyrinth.

Das Lerchenmoor ist zudem auch sehr trügerisch. Es sieht nur so aus, dass man auf den Pfaden der Tiere sicher laufen kann. Unter dem scheinbar trockenen Moos, das an den Seiten des Pfads wächst, verstecken sich mit Wassergruben durchsetzte Tiefen. Unter den dicken Wurzeladern, von denen die Pfade wie durchwoben sind, sieht man äußerst tiefe Löcher mit schwarzem Wasser am Boden.

Das nördliche Ende des Moors, das in Richtung Pferdesee [Zirgezers] und Ziegenbockberg [Āžu kalns] zeigt, ist auch für mich nur ein wenig erkundetes Gebiet. Dort gibt es dunkle, unbehagliche und undurchdringliche Dickichte mit vielen Bächen und Wassergruben sowie unglaublich vielen gefallenen Bäumen. Alles dort ist mit dunklen, hängenden Flechten bewachsen und sieht aus wie ein Schwarz-Weiß-Foto. Es ist schon seltsam, dass dort noch nie ein Lebewesen gesichtet wurde. Das alles sind dunkle, schwere, nasse, geisterhafte und düstere Orte.

Der Ort, an dem das Moor in den niedrigen Wald übergeht, ist einfach entsetzlich furchteinjagend. Ich kann gar nicht sagen, was daran so schrecklich ist, aber das Schreckliche spürt man dort sofort. Man fühlt sich dort nie allein – im gruseligsten Sinne dieses Wortes. Es scheint dort jemanden zu geben, der einen beobachtet und dann ihm auch folgt. Immer näher, immer bedrohlicher. Kalter Schüttelfrost durchrüttelt einen bis zum Knochenmark, man dreht sich um, schaut zurück – und da ist nie jemand. Nur eine unnatürliche Stille. Dann geht man weiter und spürt es wieder, jetzt aber noch stärker, klarer, bedrückender…

Ähnlich fühlt es sich im Moor neben der Dreckeiche. Auch dort wird man von diesem merkwürdigen Gefühl der Verfolgung heimgesucht, von dem man Gänsehaut kriegt. Ich denke schon, dass ein schwächerer Mensch, wenn er diesen ursprünglichen Ängsten verfallen würde, schnell den Verstand verlieren könnte.

Als ich noch Kind war, hörte ich einmal jemand über den Ort sagen: „Da ist doch nichts!“ Wenn ich über diese Worte nachdenke, läuft es mir sofort kalt über den Rücken. Ein Ort, wo nichts ist. Was gibt es dann dort? Was gibt es dann, wenn es nichts gibt?

Nirgendwo sonst auf der ganzen Welt – weder in Deutschland noch in Frankreich, nicht einmal in den skandinavischen Morasten – habe ich einen spukhafteren und gruseligeren Ort gesehen als das Moor an der Dreckeiche oder das entferntere Ende des Lerchenmoors. Selbst die besten Kennerinnen und Kenner dieser Ortschaften verlaufen sich dort. Im Sommer waren wir in unserem Landhaus immer mindestens vier Kinder – es gab mich, meinen jüngeren Bruder und zwei entferntere Cousins. Wir waren die beste, lustigste und untrennbarste Bande, die man sich vorstellen konnte. Was für Streiche haben wir nicht angerichtet!

Als die Zeit für Pilzsammeln kam, liefen wir oft zum Haselbaumberg [Lazdu kalniņš], um auf dessen dunklen Hängen in der Nähe von Lerchenmoor die frischen, dicken Rothaut-Röhrlinge zu suchen, die wir wegen ihrer orangefarbenen Kappen „Trolle“ nannten. Nun war es wichtig, als erster zu den richtigen Pilzstellen zu laufen und diese aufmerksam durchzusuchen, denn es ist gar nicht so einfach, die kleinen Rothaut-Röhrlinge zu erblicken. So liefen wir eines Tages zum Haselbaumberg und hockten uns nieder, um die Pilze besser zu sehen. Plötzlich erklang es irgendwo aus der Nähe, aus dem Moor, ein seltsames Geräusch. Zuerst war es keuchend, dann brachen die Äste, und schließlich hörte man, dass etwas hohl und stumpf niederfiel. Als ob ein großes schweres Objekt zu Boden gefallen wäre. Das Geräusch war ganz klar zu hören, selbst das sumpfige Land am Fuße des Haselbaumbergs zitterte davon. Wir alle schauten mit Angst erfüllten Augen einander an. Wir hatten irgendwann Geschichten über Werwölfe gehört, wie sie Tiere wütend auseinanderreißen und verkrüppeln, die kopflosen Körper dann über die Baumkronen und sogar mehrere Kilometer weit werfen, weil sie über eine primitive, unkontrollierte Kraft verfügen. Dieses seltsame Wesen werde am häufigsten während der Jagd beobachtet, denn dann bemühe sich der Werwolf um die Rache der sinnlos getöteten Tiere und versuche so, die herzlosen Schießer ein letztes Mal zu warnen.

Es wird auch erzählt, dass Unfälle während der Jagd eine direkte Folge der Einmischung durch Werwölfe seien, denn die Letzteren lassen dann einen der Jäger in der Wahrnehmung der anderen in der Gestalt eines Tieres erscheinen. Wenn Mensch nur aus Spaß tötet, der Natur schadet und diese zerstört, dann sorgt der Werwolf für sein Verderben oder seine Vernichtung. Andere werden nicht einmal etwas Verdächtiges ahnen – äußerlich wird es wie ein gewöhnlicher Unfall an einem einsamen Ort aussehen.

An dem Tag kam es uns allen so vor, dass genau das auch geschah – irgendwo in der Nähe ist der Körper eines vom Werwolf geworfenen Tieres auf den Boden gefallen. Wir haben es nicht in Worten gefasst, aber wir wussten alle sofort Bescheid, was es war, zudem alle auf einmal! Und wir spürten eine plötzliche, unerklärlich starke Angst vor etwas. So begaben wir uns zum Haselbaumberg und stiegen dann hinunter zum Lerchenmoor. Wir schlichen durch die schmalen Pfade im Dickicht des Moors. Wir mussten nicht lange suchen – in der Nähe des Ortes, an dem wir am Tag zuvor Pilze sammelten, lag auf einem der im Moor von Tieren eingetretenen Pfade ein kopfloser Rehkörper. Der Kopf war abgerissen, abgebissen oder abgenagt. Die Spitze der Wirbelsäule ragte aus dem Nacken. Das Reh war an Seiten mehrmals verwundet, an einer Stelle war sein Bauch aufgerissen. „Krass!“ Das war das Einzige, was tief flüsternd über unsere Lippen kam, denn der Anblick war weit von angenehm. Obwohl wir zahlenmäßig viele waren, überwältigte uns trotzdem die Angst. Natürlich hätte nur ein Werwolf etwas derartiges tun können!

Uns schien es, dass es schon zu dämmern anfing, also gingen wir sofort weg von diesem Ort. Als wir auf dem Weg zum Haselbaumberg waren, begann jemand auf der anderen Seite von Lerchenmoor zu jaulen. Das Jaulen hörte sich so einsam und beängstigend an! Vielleicht war es ein Wolf, ich weiß es nicht. Aber es klang gruselig. Die größeren Jungs rannten nach Hause und lachend behaupteten, dass der Wolf uns gleich auffressen wird. Wir konnten mit ihnen nicht mithalten.

Indem wir den Großen hinterherrannten, brachte unter uns Panik uns. Niemand wollte der Letzte bleiben, also sind wir ganz ohne Atem zu Hause angekommen. Die großen Jungs hänselten uns wieder: „Ehhh, ihr, Angsthasen! Schau, wie die Kleinen Schiss gekriegt haben! Schau, wie die Lippe zittert!“

Am Abend erzählten wir es den Erwachsenen, diese dachten zuerst, wir hätten es erfunden. Als wir uns nicht zufriedengaben und alles noch genauer im Detail erklärten, war das Fazit ungefähr so: Das tote Reh lag bereits da, im Sommer begannen die Kadaver schneller zu verfaulen. Die durch das Faulen verursachten Blähungen ließen den Bauch anschwellen, sodass dieser platzte, und das haben wir dann gehört.

Damals wurde ich sauer und dachte: Wie kann man nur überhaupt nicht darauf hören, was die Kinder erzählen? Das Geräusch war anders, und das Reh hatte zudem keinen Kopf. Nur mit Mühe gelang es uns, dass auch diese Tatsachen berücksichtigt wurden. Aber auch sie wurden ganz schön erklärt: „Ach, was für ein Unsinn; der Kopf wurde sicherlich von jemand abgeschnitten!“

Als wir am nächsten Tag von unserer Geschichte nicht abließen und die „alte Oper“ über den von Werwölfen geworfenen Rehkörper wieder vortrugen, beschlossen die Erwachsenen hinzugehen und sich die Sache anzuschauen. Der Körper war aber nicht mehr da, und es gab nichts, was darauf hindeutete, dass er jemals dort gewesen wäre.